Fieldwork

Montag, 22. August 2011

Die Alten vom Stein

„Bei uns an der Straßenecke vertrauen sich die Leute nicht,“ sagt S. Wir hetzen wie üblich durch den Stadtverkehr, er mit sechs Paar Schuhen in der Hand, ich mit meinem Notizblock. „Ich habe schon einmal versucht, die Leute zu animieren gemeinsame Sache zu machen.“ Ich horche auf. „Ich habe vorgeschlagen, ein gemeinsames Bankkonto zu eröffnen, denn wenn wir unsere geringen Gewinne zusammenlegen würden, könnten wir in ein oder zwei Jahren vielleicht ein besseres Business finden.“

Oft habe ich in Interviews Klagen gehört, dass jeder am Maskani im Grunde auf sich selbst gestellt sei. Wenn es Probleme gebe, jemand in der Familie krank werde, oder wenn das Kapital aufgrund zu geringer Verkäufe immer kleiner würde, könne man auf die Hilfe der anderen kaum hoffen. Mich hat das immer verwundert, weil ich im täglichen Miteinander beobachten kann, wie intensiv kommuniziert und interagiert wird, wie Werkzeuge zur Reparatur geteilt, Informationen ausgetauscht oder einzelne Paare Schuhe hergeliehen werden. Eine stabile Gemeinschaft scheint aber aus dieser täglichen Kooperation nicht gewachsen zu sein – zumindest lassen die Darstellungen meiner Protagonisten dieses Bild entstehen.

Trotz meiner Belege für geteiltes Wissen, das unter den Schuhverkäufern tradiert wird, institutionalisierte Formen der Kooperation, gemeinsame Herkunft und zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen unter den einzelnen Verkäufern negieren alle, die ich danach frage, dass es so etwas wie eine „Gruppe“ überhaupt gibt. Folglich waren auch die Bemühungen meines Freundes S., seine Kollegen von den Vorteilen eines gemeinsamen Kontos zu überzeugen, gering. „Der eine oder andere war schon bereit, sich darauf einzulassen, aber die meisten haben gesagt, sie hätten ihre eigenen Sorgen, oder sie seien zufrieden, wenn sie von Tag zu Tag über die Runden kämen.“ Er aber mache sich Sorgen, nicht um sich, sondern um die Zukunft seiner Kinder. Derer hat er zwei – und im September erwarten er und seine Frau ihr drittes. „Sie werden mich eines Tages fragen, wieso ich es nicht geschafft habe, ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Darüber zerbreche ich mir jeden Tag den Kopf.“

Besprechung unterm Baum: Sie Alten vom Stein und ihre "Satzung"
Besprechung unterm Baum: Die Alten vom Stein und ihre „Satzung“

Tage später spricht S. mich an. Er hat nach unserem Gespräch einige seiner Freunde erneut darauf angesprochen, und drei Mitstreiter gefunden, die bereit sind, etwas zu wagen. Nachdem sie eine Bank gefunden haben, bei der ein Gemeinschaftskonto ohne größeren Verwaltungsaufwand eröffnet werden kann, bitten sie mich, sie bei der Formulierung einer „Satzung“ ihrer Gruppe zu beraten. Sie wollen monatlich einen bestimmen Betrag beiseite legen, damit sie nach einiger Zeit, einem Jahr, mit einem Batzen Geld in ein anderen Business investieren können. „Schuhe durch die Straßen tragen, das bringt uns nirgends hin,“ klagt S., „und wenn ich einmal alt bin, will ich das nicht machen müssen.“

Letzten Sonntag haben sie mich besucht, um die Grundsätze ihrer Gruppe zu besprechen. Ein paar einfache Regeln sollten reichen, um späterem Streit vorzubeugen, der in Geldsachen ja doch immer zu erwarten ist. Zu viele unterschiedliche Ideen haben die Vier schon jetzt, mit welchem Geschäft sich Geld verdienen ließe, wenn denn nur das entsprechende Kapital vorhanden wäre. Ich empfehle ihnen, eine Art „Rat“ einzuberufen, in dem alle Entscheidungen das Geld betreffend durch Konsens getroffen werden. Das schreiben wir in die Satzung. Auch soll jeder stets den gleichen Betrag einzahlen, damit später, wenn größere Gewinne eingefahren werden, kein Streit entstehen kann, weil einer von ihnen den einen oder anderen Monat nicht den vollen Betrag beigesteuert hat. Sie danken mir meinen Rat, indem sie mich zum Ehrenmitglied und „director“ berufen. Es fehlt noch ein Name für die Gruppe. „Nyama ngumu“ wird vorgeschlagen, zähes Fleisch, oder „wazee wa kijiweni“, die Alten vom Stein, da man üblicherweise auf irgendwelchen Steinen oder Betonbrocken herumhängt, wenn man auf der Straße ist. Zu fortgeschrittener Stunde vertagen wir die Namensentscheidung auf die erste Ratssitzung, und springen alternativ lieber einmal in den indischen Ozean. Anschließend Fastenbrechen mit Fanta – es ist Ramadan.

Montag, 25. Juli 2011

Die neue Schwägerin

Die beiden haben sich am Maskani kennen gelernt, an unserer „Straßenecke“. Sie hat bei den „Mamantilie“, den kochenden „Mamas“ im Hinterhof gearbeitet, er hat dort seine Schuhe für die Rotation aufpoliert. Sie haben ein Auge aufeinander geworfen und er hat ihr den Hof gemacht. Am Sonntag hat B.M. endlich seine Braut nach Hause geholt.

Der junge Sänger legt eine Leidenschaft in seine glasklare Stimme, die mir die Tränen in die Augen treibt. Ein alter Mann im weißen Kaftan erbebt im Rhythmus der Trommeln. Ich sitze mit den anderen männlichen Hochzeitsgästen auf der Matte des Bräutigams. Gemeinsam mit etwa 30 Freunden und Familienangehörigen sind wir von Mbagala ins entfernte Mbezi gefahren, um die Braut unseres Bruders abzuholen und sie in ihr neues Zuhause zu bringen.

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Da möchte man zum Moslem werden:
Schade dass man die Musik auf dem Foto nicht hört


Begonnen hat unsere Reise um 9 Uhr morgens im südlichen Stadtteil Mbagala. Bei gerösteten Süßkartoffeln und gewürztem Tee warten wir vor dem Haus des Bräutigams auf die weiteren Teilnehmer. B.M. ist einer meiner Freunde von der „Straßenecke“, und ich habe seine Einladung, bei seinem Harusi, seiner Hochzeit Teil der Partei des Bräutigams zu sein, als Ehre empfunden und selbstverständlich angenommen. Im Wesentlichen besteht die Hochzeitszeremonie darin, dass wir den Bräutigam begleiten, wenn er im Haus ihrer Eltern seine Braut abholt und sie in sein Heim bringt. Gegen 11 Uhr haben sich alle eingefunden, und es wird beratschlagt, wie wir denn nun ins entlegene Mbezi im Osten Daressalams kommen. Wir beschließen, einen der üblichen Minibusse, Daladala genannt, zu chartern, da wir sonst mit Stau und Umsteigen Gefahr laufen würden, die Zeremonie um viele Stunden zu verzögern. Nach einigem Hin- und Her setzen wir uns schließlich in Bewegung zum Daladala-Stand, wo wir etwa eine Stunde lang mit unterschiedlichen Fahrern verhandeln, bis wir schließlich einen finden, der sich auf unser Angebot einlässt. Der Bräutigam und sein älterer Bruder, als Vertreter seiner Familie, setzen sich mit einem Privatwagen in Bewegung.

Nach zwei Stunden kommen wir im Haus der Braut an. Zum Jubel der Frauen zieht unser Trupp in den Hof ein. Auf Matten haben sich die Verwandten, Freunde und Nachbarn der Braut niedergelassen, um der Zeremonie beizuwohnen, Männer und Frauen getrennt. In einer Ecke des Hofs sitzen an die dreißig Kinder mit Trommeln und Rasseln bewaffnet, in ihrer Mitte ein junger Kerl, der herzzerreisende Lobpreisungen des einzigen und wahren Gottes anstimmt. Ich ziehe meine Schuhe aus und setzte mich, gemeinsam mit den anderen Männern, auf der Matte in die Runde des Bräutigams. Die Braut, indessen, ist nirgends zu sehen.

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Warten auf die Braut: B.M. im Kreis seiner Jungs

Die Musik verklingt und der Imam betritt die bemattete Bühne. Durch ein Mikrofon verstärkt erklärt er B.M. und allen Versammelten, dass die Ehe kein Spaziergang im Park ist. Er zählt die üblichen Laster auf, mit denen Ehemänner den Frieden ihres Hauses gefährden: Bars, leichte Mädchen, Glücksspiel. Er rät B.M. vollkommen schlüssig von alledem ab, kommt dann aber relativ rasch zum Ende seiner Belehrungen, da ja, wie er feststellt, das Brautpaar eine weite Heimreise vor sich habe, und der Verkehr in Daressalam dieser Tage eine Plage sei. Er fragt den Bräutigam drei Mal, ob er bereit sei die Verantwortung für seine Frau zu übernehmen. Nachdem B.M. die Ehe annimmt und man gemeinsamen gebetet hat, erheben wir uns und begleitet den Bräutigam unter dem Jubel der Frauen ins Haus der Braut. Wir finden sie unter einem Schleier versteckt auf der Kante ihres Bettes sitzend. Sie blickt zu Boden. Während wir draußen saßen, erfahre ich von meinem Freund H., war der Imam mit dem Bruder des Bräutigams bei der Braut, um ihr ebenfalls drei Mal die Schicksalsfrage zu stellen. B.M. setzt sich neben sie. Unter dem lautstarken Ansporn seiner Freunde nimmt er ihr den Schleier ab, steckt er ihr den Ehering an und küsst sie schüchtern auf die Wange.

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Die Ehe kein Ponyhof: Wir lauschen den Worten des Imam

Die junge Frau sieht nicht sehr glücklich aus, aber ich lasse mir versichern, dass das von ihr erwartet wird. Die Hochzeit ist traditionell eine Performance, und sie gibt die Keusche, die Schüchterne. Stolz sitzt B.M. neben seiner hübschen Braut, und er kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Ich bin beeindruckt und glücklich, so tief in die privaten Angelegenheiten meiner Freunde mitgenommen zu werden, und Teil dieses wichtigen Moments im Leben von B.M. zu sein. Mit meiner Kamera bewaffnet werde ich bei jedem Schritt der Zeremonie in die erste Reihe gedrängt, um alles festzuhalten. Wir verlassen das Haus und lassen uns wieder auf den Matten nieder, um gemeinsam zu Essen. Ich bin etwas von der allgemeinen Hektik und fehlenden Feierlichkeit überrascht, denn schon nach wenigen Minuten beginnen meine Freunde sich die Hände zu waschen und bewegen sich wieder in Richtung unseres gemieteten Busses.

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Da freut sich einer, und eine nicht? B.M. und seine Braut

So bringen wir die traditionsgemäß traurig dreinblickende Braut vom Haus ihrer Eltern in ihr neues Leben an der Seite von B.M. in Mbagala. Zwei Stunden fahren wir wieder quer durch die Stadt. Der ganze Bus in Aufruhr, ein Lied nach dem anderen wird geschmettert, mehr gegrölt als gesungen, zum Klatschen der dreißig Gratulanten. Mein Freund P., den ich von der Straße als schweigsamen und eher zurückhaltenden Mann kenne, unterhält die gesamte Gesellschaft und treibt uns alle an, bis seine eigene Stimme brüchig wird. Als wir wieder in Mbagala ankommen, erfahren wir, dass der Privatwagen, mit dem das Brautpaar gefahren ist, unterwegs von der Polizei konfisziert wurde. Die Steuerplakette war abgelaufen. Der ältere Bruder bittet die Hochzeitsgesellschaft um eine Spende, um das herannahende Taxi für die Brautleute zu bezahlen. Nachdem die Gäste zögern – kaum einer hat auch nur 1000 Schilling in der Tasche – werde ich meiner Rolle als reicher Weißer gerecht und bezahle die 10.000 Schilling.

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Wir haben eine neue Schwägerin: Einzug in Mbagala

Als sie uns schließlich erreichen übernimmt wieder P. die Führung der Truppe. Er nimmt seine „shemeji“, seine Schwägerin bei der Hand, und stimmt einen Chor an. „Tumempata, shemeji yetu“, wir haben eine neue Schwägerin. Da man sich in Tansania, unabhängig davon, ob man wirklich miteinander verwandt ist, höflicherweise mit Bruder und Schwester, Onkel oder Tante, Vater oder Mutter anspricht, ist die Ehefrau unseres Bruders B.M. logischerweise unser aller Schwägerin. Wir ziehen durch die Straße und drängen uns in das Zimmer der Bräutigams, wo er sich mit seiner neuen Frau wieder auf der Bettkante niederlässt. Dort bleiben die beiden sitzen, während wir uns wieder nach draußen begeben, um ein weiteres gemeinsames Mahl einzunehmen. Als ich mich nach einiger Zeit verabschieden will, finde ich die beiden immer noch auf dem Bett sitzend. Ich verabschiede mich von B.M. und meiner neuen Schwägerin. Ich wünsche den beiden alles Gute für ihre Ehe.

Donnerstag, 7. Juli 2011

Das weiße Rauschen?

Zu Beginn meiner Feldforschung in Daressalam war ich mit täglichen Frustrationen konfrontiert. Wenn die Sprachkenntnisse noch nicht genügen, um sich selbstbewusst in die täglichen Kommunikationsflüsse einzuklinken, muss man sich damit abfinden, dass jeder Fünfjährige dem Leben mit mehr Souveränität entgegentritt, als man selbst. An den falschen Stellen gelacht, stotternde Versuche etwas über das eigene Leben zu erzählen, unbeabsichtigt für die Belustigung der gesamten Truppe gesorgt. Sehr witzig. Eine wohl natürliche Folge dieser kulturellen Verunsicherung ist, dass man jeden Tag mit sich selber ringt: Es kostet ein hohes Maß an Überwindung, sich *freiwillig* diesen Situationen auszusetzen.

Aber vermutlich ist das die Essenz der Feldforschungserfahrung. Kurt Beck sagte einmal zu mir, der Ethnologe muss sich mit Haut und Haaren in die fremde Kultur hineinwagen, und dabei auch die eigene Person aufs Spiel setzen. Ich verstehe jetzt, was er gemeint hat. Damit bekommt die Ethnologie eine persönlichkeitserweiternde Wirkung, lässt mich über mich selbst stolpern, legt den Finger in intime Wunden. Nichts ist so einsam, wie die ersten Wochen der Feldforschung, das können sicher viele Kollegen bestätigen. Aus dieser Einsamkeit heraus muss ich zugleich über alle Maßen kommunikativ und sozial sein. Ich muss ständig die Initiative ergreifen und die Leute bitten, mir zu helfen, mit mir zu sprechen, mich zeitweise in ihr Leben mitzunehmen. Manche Beziehungen im „Feld“ müssen jeden Tag erneuert werden, beginnen jeden Tag bei Null. Andere ziehen an mir zu jeder Tages- und Nachtzeit, zerren mich in unterschiedliche Richtungen, fordern mich, Teil ihres Lebens zu werden, Teil ihrer Familie, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren.

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Sich selbst beforschen: Ein Ethnologe und ein „Anderer“
Foto © Link Reuben 2011


Die Menschen in jedem „Feld“ sind Persönlichkeiten, komplex, tief, mit Biografien und Zukunftshoffnungen, Problemen, Ängsten, alten Wunden, Ecken und Kanten. Keiner von ihnen ist ein „Informant“, den ich nur umdrehen und schütteln muss, schon purzeln die „Informationen“ heraus. Je mehr ich mich auf mein Gegenüber einlasse, je mehr gemeinsamen Boden wir unter unseren Füßen spüren, desto detailreicher und tiefer werden die Gespräche, und damit auch meine „Fakten“ (denn die Informationen sind nicht gegeben, also „Daten“, sondern durch mich und mein Gegenüber geschaffen, also „Fakten“).

Aus den komplexen Persönlichkeiten setzt sich ein soziales Gefüge zusammen, das entsprechend vielgestaltig und im ständigen Wandel ist. Es gibt kein Zentrum, alles ist irgendwie Peripherie. Es gibt keinen privilegierten Standpunkt, von dem aus ich einen „Kernbestand“ an Wissen und Kultur herausarbeiten könnte. Die einzelnen Verkäufer treffen sich als Individuen, mit unterschiedlichen Strategien und Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben zu bewerkstelligen ist. Gibt es mein „Feld“ also überhaupt? Oder findet es sich nur in meinem Kopf?

Und wie kann ich es „erforschen“, wenn es manchmal tagelang stumm bleibt? Wenn der Zeitdruck, unter dem die Straßenhändler stehen, mit meinem Zeitdruck kollidiert? Wenn an die 30 Straßenhändler um mich herumwuseln: Mit wem muss ich reden? Wer hat eine interessante Geschichte? Wie bekommen ich das heraus, und zwar möglichst schnell? Denn Feldforschung ist ein zeitlich begrenztes Unternehmen (ich weiß nicht, ob das nun das Gute oder das Schlechte daran ist). Wenn ich mit Gedanken an Giddens´ „Theorie der Strukturierung“ im Feld sitze, neben den Jungs, die seit zwei Stunden lauthals über das vorabendliche Spiel der „Champions League“ diskutieren: Wo, bitte, sind die relevanten Informationen? Oder sind sie das schon? Woran erkenne ich sie?

All das muss ich analytisch zum klingen bringen. Mein wichtigstes und einziges Messinstrument bin ich selbst. Meine Person ist der Resonanzkörper, der durch meine Erfahrungen im „Feld“ zum schwingen gebracht wird. Dabei spielt nicht nur die geistige Reflexion eine Rolle. Wenn es so etwas wie kulturellen Sinn gibt, spielen sicher auch meine Sinne eine Rolle. Und sicher auch all der Unsinn, der sich zwischen den zu entschlüsselnden Symbolen versteckt. Und der manchmal in den Vordergrund quillt und meinen Horizont füllt. Das weiße Rauschen der Zeichen, die nicht entschlüsselt werden, weder von mir, noch von den Akteuren. Die vielleicht gar nicht zu deuten sind.

Klassische Ethnologie folgt ja dem Narrativ, der Ethnologe müsse nur lange und intensiv genug den „Eingeborenen“ lauschen, dann würde er zu ihrer Sinndeutung der Welt vordringen. Was aber passiert mit der Ethnologie, wenn die Akteure selbst einen Großteil dessen nicht verstehen, was um sie herum vor sich geht? Oder schlichtweg kein Interesse daran haben? Auch hier muss eine Erkenntnismöglichkeit liegen. So wiegt sich der Ethnologe am Ende des Tages mit dem mäßig tröstenden Gedanken in den Schlaf: Das „Feld“ spricht zu mir, auch wenn es mich auslacht oder stumm bleibt.

Dienstag, 21. Juni 2011

Am liebsten wie Onkel Mnehu

Es ist nicht gerade einfach, elf Schuhe auf zwei Händen zu balancieren. Mein Freund C. hält in der rechten Hand sechs, in der linken Hand fünf Schuhe. An seinem linken Unterarm baumelt eine schwarze Plastiktüte mit den jeweils zugehörigen zweiten Schuhen der elf Paare. Es ist früher Nachmittag, Zeit in die Rotation zu gehen.

„Wenn Du mit Schuhen in der Hand durch Daressalam läufst, wissen die Leute, dass Du ungebildet und arm bist, sonst müsstest Du diese Arbeit nicht machen. Viele blicken auf Dich herab“, sagt C., während wir an einem College für Business und Finanzwesen vorbeigehen. Adrett gekleidete Studenten gaffen uns an. Ich verstehe an welchem Ende der sozialen Hackordnung wir stehen. C. hat keine Alternativen. Zuhause warten seine junge Frau und drei kleine Kinder, sowie ein Bruder und die Mutter, die gerade aus dem Dorf im Süden Tansanias zu Besuch sind. Alle haben Hunger und warten auf ihn, den Mann im Haus. Er muss Geld nach Hause bringen. Dass sie von den Leuten in der Stadt herablassend behandelt werden, schildern mir viele der Straßenhändler, mit denen ich mich unterhalte. Sie haben unterschiedliche Strategien entwickelt, wie sie ihre Würde und Selbstachtung hochhalten. C. und viele seiner Freunde finden in ihrem Glauben halt. „Wenn Du wirklich Gott fürchtest,“ sagt er mir, „kannst Du nur ein ehrlicher Händler sein.“ Betrügereien oder gar Diebstahl kommen für ihn nicht in Frage. „Gott weiß, dass ich das tue, um meine Familie zu ernähren.“

Wir kreuzen durch die Hauptstraßen des Central Business Districts Daressalams. Entscheidend für den Erfolg dieses Geschäfts ist das Timing. C. weiß an welchen Straßenecken die Leute vorbeikommen, wenn sie zur Mittagszeit ihre Büros in Richtung „Mama Ntilie“ (die von Frauen betriebenen Garküchen in den Hinterhöfen) verlassen. Er weiß, welcher Bürokomplex um wie viel Uhr Feierabend macht. Dieses Wissen um die zeitliche Taktung der Stadt ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg im Geschäft. Nichts ist frustrierender, als unter den herablassenden Blicken der Leute und ohne Aussicht auf einen Verkauf den ganzen Tag durch die Straßen zu laufen. Die Routinen der formell beschäftigten Büroleute strukturieren den Arbeitstag der informellen Straßenhändler. Diese müssen mit ihren Energien haushalten. Im richtigen Moment an der richtigen Straßenkreuzung oder vor dem richtigen Hochhaus stehen. Die Jungs wissen, wo das Geld zu finden ist, und wer keins in der Tasche hat. Im richtigen Moment wenden sie alle Energien auf, um mit viel rhetorischem Geschick die Waren anzupreisen. In anderen Situationen tragen sie die Schuhe stumm an Gruppen von Frauen vorbei, wenn ein Blick auf ihre Füße zeigt, dass man ohnehin nicht ihre Größen dabei hat.

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Auf den richtigen Griff kommt es an
Foto © Link Reuben 2011


Vor dem High Court nahe dem Meer baut C. seine Schuhe unter einem Baum auf. Wir setzen uns in den Schatten eines anderen Baums, und warten, dass die Kundinnen „anbeißen“. „Wir müssen aufpassen, hier laufen viele Läuse rum.“ Die Milizen der Stadtverwaltung sind die natürlichen Feinde der Straßenhändler. Sie beißen und jucken. Alle in Tansania wissen, dass die geschätzten 800.000 Straßenhändler in Daressalam keine andere Wahl haben, als informell ihren berühmten Dollar am Tag zu erwirtschaften. Bildung und „richtige“ Arbeit gibt es für sie einfach nicht. Auch Regierung und Verwaltung weiß das. Fliegende Händler aber passen nicht in das Bild einer „modernen“ afrikanischen Metropole, in die man Dar gerne über Nacht verwandeln würde. Um das „Problem“ des Straßenhandels zu bekämpfen, hat die Stadtverwaltung die geniale Strategie entwickelt, mit Schlagstöcken bewaffnete Schlägertrupps loszuschicken, um die Stadt zu „säubern“. Wer ihnen kein Geld gibt, verliert seine Waren, oder findet sich selbst im Gefängnis wieder. Was genau damit bewirkt werden soll, und wem damit geholfen ist, bleibt mir ein Rätsel, das schwer im Magen liegt.

Zwei Frauen sehen sich die Schuhe an. C. springt auf und begrüßt sie. Er hat die Gabe den Kundinnen Komplimente zu machen und ihnen Honig ums Maul zu schmieren, auch wenn er selber total erschöpft und müde ist. Ich bewundere das, wenn ich überlege, in welcher körperlichen und geistigen Verfassung ich mich zum Teil durch die Straßen schleppe. „Mit der Kundschaft flirten ist das wichtigste an diesem Geschäft. Dieses Business findet vor allem im Mund statt“. Dabei ist eine Möglichkeit ihnen zu schmeicheln, die Schuhe teuer anzubieten. Wer im High Court of Tanzania arbeitet, will nicht als arm gesehen werden. C. schraubt die Preise nach oben. Die Frauen probieren einige Schuhe an, wollen dann aber weiterziehen. C. lässt nicht locker. Als sie sich bereits einige Meter entfernt haben, schnappt er sich das Paar Schuhe, das eine der beiden zuletzt probiert hat und läuft ihnen hinterher. Ich beobachte aus einiger Entfernung, wie er mit breitem Grinsen auf den Lippen und schräg gestelltem Kopf der Kundin den Schuh anpreist und viele Worte dabei verliert. Sie unterbricht ihn mit einer Handbewegung und will sich zum Gehen wenden, aber C. hat sich schon festgebissen. Er läuft neben ihr her und umhüllt sie in Wortkaskaden. Schließlich bleibt die Frau stehen und lacht. Sie zückt ihre Handtasche und sucht darin nach Geld. C. holt eine zusammengefaltete Plastiktüte aus der Hintertasche seiner Hose und steckt die Schuhe hinein. „Was hast Du ihr gesagt?“, frage ich ihn, nach dem er zufrieden zu unserem Baum zurückkehrt. „Nimepiga force“, antwortet er mir. Er hat sich der „force“ bedient. Wenn sie erkennen, dass eine Kundin sich in einen der Schuhe verguckt hat, ziehen die Straßenhändler alle Register, um die Kundin davon zu überzeugen, dass sie ohne diesen Schuh nicht glücklich sein könne, dass sie Riesenglück habe, ihn heute auf der Straße angeboten zu bekommen, denn im Laden finde sich so ein schöner Schuh nicht unter 70.000 Schilling, dieser hier aber sei gebraucht und komme direkt aus Europa, sei also von besonders guter Qualität, keine billige Fälschung aus China oder Korea, und so weiter, und so fort...

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Die ganze Stadt ein Markt: Kundenjagd in Daressalam
Foto © Link Reuben 2011


Am Tanzania Public Service College bauen wir ein weiteres Mal auf. Hier hat sich eine kleine Gruppe von Verkäufern eingefunden, die in ähnlicher zeitlicher Taktung die potentiellen Kundenströme des Stadtzentrums abpassen. Wir setzen uns auf einen alten LKW-Reifen unter einem Baum und begrüßen die Runde. Aus dem College strömen gegen 16 Uhr die Studenten und Studentinnen. Viele bleiben bei der improvisierten Auslage im Staub der Straße stehen und begutachten die Schuhe und Handtaschen, die die Jungs mitgebracht haben. „Kwa mjomba Mnehu“, sagt C. zu einem Kollegen, während eine junge Frau sich einen seiner Schuhe greift, um ihn genauer zu inspizieren. „Mach´s wie Onkel Mnehu“. Der Verkäufer des Schuhs nickt ihm zu und geht auf die Kundin zu. Sie fragt nach dem Preis. Er sagt etwas von 35.000 Schilling. Ich wundere mich. Selten habe ich erlebt, dass die Verkäufer so dreist einen so unverschämt hohen Preis nennen. Nach einigem Verhandeln kauft sie das Paar für teures Geld. Ich wende mich an meinen Freund C. „Wer bitte ist Onkel Mnehu“ frage ich ihn. C. lacht und erklärt mir „Onkel Mnehu war früher ein Verkäufer auf dem Mchikichini-Markt, wo wir unsere Schuhe morgens einkaufen. Er hatte die unverschämtesten hohen Preise weit und breit. Wenn ich meinem Kumpel sage, er soll´s machen wie Onkel Mnehu, weiß er, dass er heute ein gutes Geschäft machen kann. Ich kenne die Kundin, die hat viel Geld in der Tasche, das rülpst sie nur so heraus“. Wer Onkel Mnehu allerdings ist, das weiß sie sicher nicht. Ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen können die Verkäufer in Anwesenheit der Kunden also Informationen austauschen, wenn sie sich solcher Formulierungen und Codes bedienen.

Gegen 17 Uhr machen wir uns auf den Weg zum Benjamin Mkapa Tower, direkt an der Bushaltestelle „Posta“, dem Herzen des Zentrums. Dort ist die letzte Station des Tages. Um diese Zeit können die Straßenhändler hier ihre Waren aufbauen, ohne von den privaten Sicherheitsdiensten vertrieben zu werden. Von den vielen Straßenhändlern machen einige lange Gesichter. Sie haben heute nichts verkauft, haben nicht einmal das Geld für den Bus zurück nach Hause in der Tasche. Sie machen die Runde und bitten ihre Kollegen um etwas Kleingeld. Wer die 400 Schilling nicht zusammenbekommt, der kann sich auf einen dreistündigen Fußmarsch nach Hause einstellen, und das nach einem langen Tag in den Straßen der Stadt. C. hat heute etwas verdient und kann weiterhelfen. Ich verstehe, dass mein Freund ein erfahrener Schuhverkäufer ist, der sein persönliches System gefunden hat, um zu seinem Geld zu kommen. Trotzdem bleibt das Geschäft ein Glücksspiel. „Du kannst noch so schöne Schuhe dabei haben, Du weißt nie, wen Du in den Straßen triffst“, sagt er. Viele Faktoren des Geschäfts lassen sich einfach nicht kontrollieren. An manchen Tagen bleiben auch seine Taschen leer.

Samstag, 11. Juni 2011

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(c) 2011 Link Reuben
Mmachinga auf den Straßen Daressalams
Foto (c) Link Reuben 2011

Samstag, 4. Juni 2011

Gutes Gift und Blechkanister

„Hast du dein Geld und dein Telefon in Sicherheit?“ fragt mich C. als wir uns seitwärts in das Gedränge des Markts schieben. Von der staubigen Straße, dem Lärm und den Abgasen der Minibusse tauchen wir ab unter die Wellblechdächer des Mchikichini-Marktes. Wir sind in Ilala, in unmittelbarer Nachbarschaft vom Marktviertel Kariakoo, dem Herzen Daressalams. Die Sonne ist soeben aufgegangen.

Ich habe mich heute mit C. hier verabredet, um einmal zu sehen, wo die Jungs auf der Straße eigentlich ihre Ware herbekommen. Der Mchikichini-Markt ist die „Quelle“, an der sich Tausende von Straßenhändlern vor Tagesanbruch laben. Hier finden sie die gebrauchten Kleider und Schuhe, Mitumba genannt, die sie zu ihrem Business gemacht haben. Gegen 4 Uhr beginnt das Geschäft. In Ballen zusammengeschnürt kommt die Ware aus Europa, den USA und China. Die Großhändler haben keine Ahnung, welche Qualität die Ware hat, die sie da einkaufen. Sie schneiden die Ballen auf und verticken unsere abgetragenen Hosen, Hemden, Jacken, Handtücher, Unterwäsche, Schuhe. Eben alles, was die Konsummaschine bei uns zu Hause als „unbrauchbar“ ausgekotzt hat.

Im Schuhbereich finde ich, auf einer Fläche von etwa 60 auf 60 Metern, Reihen von Holzplattformen, vielleicht 1,80 Meter im Quadrat, etwa einen halben bis einen Meter hoch. Darüber, auf einer improvisierten Holzkonstruktion: ein fast durchgängiges Dach aus Wellblech über dem gesamten Markt. Dazwischen: schmale Gänge, in denen sich die Jungs an den Wühltischen drängen. Auf den Holzgestellen liegen Haufen von jeweils zwei- bis dreihundert Schuhen, wild durcheinander. Hochhackige Schuhe neben Oma´s abgetragenen Gesundheitstretern, Sandalen unter Gummistiefeln und Turnschuhen (auch „rubber“ genannt, nach ihrem Hauptbestandteil Gummi). Am hinteren Ende der Plattformen sitzen die Händler und ihre Frauen. Sie wachen über das Geschäft, dicke Geldbündel in den Händen haltend. Mitten in den Schuhhaufen stehen junge Männer: selber barfuss. Sie rufen die Preise aus und helfen den Kunden, den jeweils fehlenden Schuh eines Paars zu finden. Denn in Wühlnähe der Kundschaft findet sich immer nur ein Schuh. Der dazugehörige Zweite wurde aussortiert und außer Reichweite der Straßenjungs deponiert. So kann sich niemand mit einem Paar aus dem Staub machen, ohne zu zahlen.

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Mchikichini-Schuhmarkt
(Foto (c) Link Reuben 2011)


Einige der Marktstände haben große Lautsprecher an die Holzpfosten gehängt. Auf einem steht ein dicker Subwoofer, aus dem arabisch anmutende und für die Küste Tansanias typische „Taarab“-Musik in knüppeldicker Lautstärke bricht. In den Brei aus Musik, schwüler Hitze und dem Dunst tausender gebrauchter Schuhe mischen sich die „wamachinga“, die Straßenhändler, die heute Morgen gekommen sind um „Arbeit“ zu finden.

Mein Freund C. beginnt die Jagd nach brauchbarer Ware. Ich sehe ihm zu, wie er bis zu den Ellbogen in einen Haufen fährt um einen Frauenschuh mit plastik-goldenem Flechtwerk ans Licht zu befördern. „Sumu“ sagt er mir, Gift. Damit lässt sich Geld machen, meint er damit. Ich bin mir da angesichts der Schaurigkeit dieses abgetragenen Treters nicht ganz so sicher, halte mich aber mit meiner Meinung zurück und bleibe in der Rolle des Beobachters. C. fährt mit den Fingern der rechten Hand in den Schuh, und prüft, ob sie ganz in der Spitze des Schuhs verschwinden. „Die Frauen mögen das nicht, wenn in hohen Schuhen ihre Zehen herausgucken,“ sagt er. Er messe das mit seinen Fingern aus. Er dreht und wendet den Schuh, wirft ihn dann aber zurück auf den Haufen. Der goldene Plastiküberzug am Absatz ist total abgeblättert, da hilft auch kein „Superglue“ mehr. Ein wesentlicher Arbeitsschritt in der täglichen Routine der Schuhverkäufer besteht darin, die geschundenen Schuhe wieder verkaufbar zu machen. Viel mehr Hilfsmittel als Wasser, etwas Waschpulver, Schuhcreme in zwei oder drei Farben („Dawa“ genannt, also „Medizin“) und eben Sekundenkleber benutzen sie dazu nicht.

Wir ziehen weiter. An einem Stand findet C. ein Paar guterhaltener roter Wildlederschuhe, hoher Absatz und „Made in China“. Er ist begeistert. „Sumu“ eben. An diesem Stand gilt es, nach dem individuellen Preis des Schuhs zu fragen. Der Verkäufer nennt den absurden Preis von 22.000 TSh. C. bietet 7.000. In hohem Bogen wirft der Händler den Schuh zurück auf den Haufen und würdigt C. keines weiteren Blickes mehr. C. schüttelt den Kopf. „Der Typ weiß, dass er gute Ware hat.“ Er kann so dreist sein und Preise verlangen, die die Jungs auf der Straße nie im Leben wieder reinholen können. „Warten wir bis später, da ändert sich die Lage,“ meint C. Denn während jetzt die relativ hohen Preise noch „kwa kuelewana“, also durch Nachfragen und Handeln klargemacht werden, werden zu einem späteren Zeitpunkt niedrigere Einheitspreise ausgerufen.

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Frische "Mitumba" - aus Europa?
(Foto (c) Link Reuben 2011)


Wenn die besonders begehrten Schuhe weg sind und viele der Straßenhändler bereits haben was sie brauchen, wird „auf den Blechkanister gehauen“. Genauer und auf Kiswahili gesagt: „wanapiga debe“: „Arobaini arobaini arobaini!“ plärrt es über die Köpfe des Getummels hinweg. „Vierzig vierzig vierzig“ bedeutet dabei in Wahrheit „Viertausend viertausend viertausend“. Die Maulfaulheit der Straßenhändler, die ich schon so oft bestaunen durfte, hat wohl hier ihren Ursprung. „Dala dala dala!“ heißt „Fünftausend fünftausend fünftausend!“ Das muss man wissen. Ich wusste es nicht, bevor ich C. fragte. „Sina simu sina simu sina simu!“ ruft einer der Händler aus. Er sagt, er hat kein Telefon: Schnelles Zugreifen ist hier angesagt, denn späteres Nachfragen per Handy gibt´s nicht.

Es ist also alles eine Frage des Timings: Rechtzeitig da sein, um noch brauchbare Ware zu finden, aber eben spät genug einsteigen, um günstige Preise zu bekommen. Wir verlassen den Trubel für eine Viertelstunde und trinken am Busstand gegenüber einen Mokka, der Tote aufweckt – ich erwache. Wir kehren zurück zu den Schuhhaufen unter das Wellblech, doch finden wir das schöne Paar roter Schuhe nicht mehr. Schlechtes Timing. Wir streifen weiter durch die Reihen von Ständen. Kaffee-Verkäufer drängen sich an uns vorbei, balancieren ihre Metallkannen auf Wannen mit glühenden Holzkohlen zwischen unseren Beinen hindurch. Am Boden liegen nun wirklich unbrauchbare einzelne Schuhe, eingetrampelt in den Schlamm unter unseren Füßen. Ich treffe den einen oder anderen „achimwene“, einige der „Brüder“, die ich von der Straße kenne. „Holst du dir Arbeit, Alexi?“ fragen sie mich. Ich freue mich darüber, sie hier im Licht der Neonröhren zu sehen und auch diese Seite ihres Alltags endlich kennen zu lernen.

Nein, „Arbeit“ habe ich mir heute keine geholt. C. aber hat sechs Paar Schuhe eingekauft. Auf dem Rückweg passieren wir das Marktviertel Kariakoo. Er erklärt mir unterwegs, was es mit der Vorliebe der Leute in Daressalam für gebrauchte Ware auf sich hat. „Auch wenn da ‚Made in China’ steht, wissen die Kunden, dass die Schuhe für Europa hergestellt wurden. Die Europäer tragen keinen Mist,“ sagt er. Schuhe dagegen, die als Neuware aus China nach Tansania kommen, gelten als schlechte Ware, oft Fälschungen von Markenartikeln. Ich wundere mich ein wenig. Ich selbst bin mir nicht so sicher, dass diese Schuhe alle auf den Straßen Europas ausgelatscht wurden. In einigen kleben Aufkleber mit Preisen in US-Dollar. Andere könnten ebenso gut direkt aus der Volksrepublik oder Korea kommen. In der Logik der Straße aber hält „USA-Europa“ als Garant für die Qualität der Schuhe her, die eigentlich und irgendwie allesamt aus China kommen.

Kariakoo
Das Marktviertel Kariakoo: Geistige Heimat aller Taschendiebe
(Foto (c) Link Reuben 2011)


Nach einer halben Stunde Fußmarsch kommen wir schon etwas erschöpft am Maskani im Zentrum der Stadt an. Die anderen Straßenhändler trudeln ebenfalls langsam ein, um sich und ihre Schuhe fit zu machen für die „Rotation“. C. wäscht und wienert seine neuen Schuhe. Ich sehe ihm dabei zu und bereite mich mental darauf vor, sie ab Mittag gemeinsam mit ihm in den Straßen der Stadt zu präsentieren. Wie wir uns dabei in die Zeittaktung der Stadt einklingen, welche "Force" da mit uns ist, und was ein gewisser "Onkel Mnehu" mit alledem zu tun hat, davon mehr beim nächsten Mal.

Freitag, 3. Juni 2011

Expanding Fieldnotes I

Fieldnotes

Donnerstag, 26. Mai 2011

„Sie haben Hunger“ oder: Wie man einen „Geertz“ macht

Der Hahnenkampf in Bali ist jedem Studenten der Ethnologie ein Begriff. In den 1970er Jahren zeigte der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz am Beispiel dieses illegalen Volkssports, wie sich durch „dichte Beschreibung“ anhand eines mikroskopischen sozialen Ereignisses ganze gesellschaftliche Verhältnisse aufblättern lassen. Besonders bekannt ist Geertz für eine neue Ethnologie, bei der die Rolle des Forschenden in seinem sozialen Umfeld thematisiert und reflektiert wird. In einer Episode beschreibt Geertz, wie schwierig es für ihn zu Beginn seiner Forschung war, überhaupt Zugang zu den Menschen in Bali zu finden. Sie ignorierten ihn und boten ihm keinerlei Einsicht in ihre Lebensweise. Diese Situation änderte sich jedoch eines Tages als Geertz, zusammen mit allen anderen Zuschauern eines illegalen Hahnenkampfes, von einer Polizeirazzia überrascht wurde. Was die Balinesen an dem sonderbaren Amerikaner gefiel war, dass er nicht, angesichts der anrückenden Staatsmacht schlicht seinen ausländischen Pass zückte, und sich damit als „nichts-ahnender Ausländer“ aus der Affäre zog. Geertz nahm die Beine unter die Arme, genau wie die anderen Leute im Dorf. Er rannte vor der Polizei davon. Diese Solidaritätsbekundung bracht das Eis zwischen den Balinesen und dem Anthropologen. Noch tagelang, so schreibt Geertz, lachte man, wenn man ihn im Dorf sah, und amte die panische Art nach, in der der Weiße vor der Polizei davonlief. Er wurde zum Gesprächsstoff der Leute und fand dadurch endlich Zugang zu ihnen.

Heute war ein Tag der Razzien. Schon am Morgen, als ich an „meine“ Straßenecke kam, und meine Schuhe auf der Straße aufbaute, machte mich ein Kumpel darauf aufmerksam, dass bereits jemand von den „City-Askari“ vorbeigekommen sei. Die „City-Askari“, oder einfach „Wasiti“, sind die „Ordnungstruppe“ der Stadtverwaltung. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, illegale Straßenhändler des Platzes zu verweisen. In der Realität sieht das mitunter so aus, dass uniformierte Schlägertrupps die Habenichtse auf den Straßen der Stadt terrorisieren, sie verprügeln, ihre Waren einsacken, sie mitnehmen und einsperren. Dabei geht es ihnen aber nicht um Recht und Ordnung. Sie wollen Schmiergeld. Wer eingesackt wurde, muss zahlen, sonst kommt er ins Gefängnis. Fast alle meiner Freunde waren schon im Knast, eine Woche, oder auch mal zwei Monate.

Zu sechst kamen sie heute Mittag bei uns vorbei. Als sie um die Ecke kamen, schnappten wir uns, so gut es ging, unsere Schuhe, rannten mit ihnen in einen Hinterhof, wo wir uns und die Schuhe in Sicherheit brachten. Aber alle Schuhe konnten wir nicht retten. Die „Wasiti“ hatten extra eine große Tüte mitgenommen (ob sie die wohl von ihrem eigenen Geld gekauft haben?), und sackten die restlichen Schuhe an unserer Ecke ein, etwa 15 Paar. Auch meine waren dabei.

Nun machen die Jungs diesen Job nicht erst seit gestern, und wissen, was in so einem Fall zu tun ist. Einer der erfahrensten am Platz nahm sich ein Herz und lief dem Trupp hinterher. Eine halbe Stunde später kam er wieder, die Tüte mit Schuhen in der Hand. Er war frustriert und sagte, er habe 10.000 Schilling (etwa 5.-€) zahlen müssen, um die Ware wieder zu bekommen. „Wana njaa“, kommentierte er, sie haben Hunger. Auf eine sonderbare Art und Weise sind die Trupps der Stadtverwaltung Teil des informellen Sektors, verdienen sie doch mit am Straßenhandel. Bei verschwindend geringen Einkommen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Machtposition auszunutzen, und sich durch Drangsal und Erpressung etwas dazu zu verdienen. Das wissen die Jungs auf der Straße auch.

Kompliziert wurde es, als verhandelt wurde, wie der Retter der Waren nun an seine 10.000 Schilling kommen soll. Er war stinksauer, dass sich einige der Jungs einfach ihre Schuhe schnappen wollten, und ihn mit dem gewaltigen Verlust sitzen lassen wollten. Es kam zu Geschrei und Handgreiflichkeiten. Der Verlust muss aufgeteilt werden, so viel war klar. Aber soll man nun anteilig bezahlen, je nachdem, wie viele von den eigenen Schuhen in der Tüte der „Wasiti“ gelandet waren? Oder teilt man das Schmiergeld einfach durch die Zahl der betroffenen Händlern? Man einigte sich schließlich auf letzteres. Auch ich musste mein „buku“, meinen Tausender beisteuern, um mit gutem Gewissen meine Schuhe wieder auf die Straße stellen zu können.

Und, ha ha, was haben wir über unseren „Mzungu“, unseren Weißen gelacht, als er panisch irgendwelche Schuhe vor ihm auf dem Gehsteig schnappte und im Schweinsgallopp davon rannte. „Umesepa!“, rufen sie mir zu, du bist abgehauen. Natürlich bin ich das. Ich hab doch Geertz gelesen.

Askari
Schuhe verkaufen am Maskani: Warten auf die nächste Razzia?
(Foto (c) Link Reuben 2011)

Dienstag, 17. Mai 2011

Neulich in Uswahilini

Bisher war die Ethnologie, wie ich sie aus der Studierstube kannte, eine Wissenschaft des geschriebenen und manches Mal auch des gesprochenen Wortes. Meistens ging es darum, zu verstehen, was andere geschrieben haben, das in Beziehung zu anderen Texten zu setzen, sich einen eigenen Reim darauf zu machen, zu kritisieren, und letztlich diesen gesamten Gedankensud selbst in die Tastatur zu gießen.

Seit ich nun empirisch ein „Feld“ beackere, hat sich meine Ethnologie vollkommen verändert. Meine Arbeit besteht nun im Wesentlichen darin, soziale Beziehungen zu knüpfen. Ethnologie heißt heute für mich, Leute ansprechen, mich selber vorstellen, erklären was ich mache, was mich interessiert, und vor allem: was ich von den Leuten will. Denn ethnologische Forschung ist nicht möglich, wenn die Leute nicht mitmachen. Sie müssen sich bereit erklären sich „erforschen“ zu lassen, sich Zeit nehmen um Fragen zu beantworten, erläutern was sie tun, wie sie Leben, was sie denken, wie sie die Welt sehen. Die Beziehungen, die dabei zustande kommen, haben eine zweigesichtige Qualität. Einerseits sind sie sehr privater Natur, da sich hier zunächst einmal zwei Menschen treffen, mit ihrem persönlichen Hintergrund, ihren Geschichten, Biografien, Ansichten, ihrem Humor, ihren Vorlieben und Abneigungen, und, je nachdem, mit ihren Sympathien und Antipathien. Gleichzeitig ist der Zweck dieser persönlichen Begegnung auch eine professionelle Beziehung, für mich zumindest. Denn mein professionelles Interesse am Leben der Menschen auf den Straßen Daressalams schickt mich mit einer täglich länger werdenden Liste an Fragen hinaus, um den Leuten Löcher in die hungrigen Bäuche zu fragen.

Wie auch immer: Die Grundlage jeder sozialen Beziehung ist die fortgesetzte Kommunikation, Interaktion, gegenseitige Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Manches Mal fällt es mir leicht in einen Kommunikationszusammenhang einzusteigen, wenn ich morgens am Maskani ankomme. An anderen Tagen bleibe ich außen vor, wenn es beispielsweise – wie so oft – stundenlang um das Fußballspiel der englischen Premier League am Vorabend geht. Da kann ich einfach nichts sachdienliches beitragen (und das nimmt mir auch keiner krumm).

An wiederum anderen Tagen ist eine besondere Herausforderung der Feldforschung das Dosieren von Aufmerksamkeiten. Wenn sich die Leute an „meiner“ Straßenecke auch an meine Anwesenheit gewöhnt haben, und ich nicht mehr wie der Exot herumgereicht werde, so wird doch stets bemerkt, wenn ich mit einer Person besonders lange herumhänge, wenn ein Interview einmal länger als üblich dauert, oder wenn ich öffentlich eine Einladung zu jemandem nach Hause freudig annehme.

So war ich letzten Sonntag bei meinem Freund H. zu Hause in Mbagala eingeladen. Für mich privat ein schönes Freundschaftsangebot, und für mich als Forschenden natürlich eine wichtige Gelegenheit, um den persönlichen Hintergrund der Straßenverkäufer zu verstehen. Groß war die Freude seines vierjährigen Sohns über die Schoko-Kekse, und groß die Freude seiner Frau, dass mir ihr Ugali mit „Mboga ya majani“ (der typische klebrige Maisbrei mit Blattgemüse) wirklich gut schmeckte. Anschließend kamen zwei weitere Jungs vorbei, die ich auch von der Straße kenne, und die im gleichen Stadtteil wohnen. Gemeinsam zogen wir durch „Uswahilini“ (Slang für ein einfaches Wohnviertel, übersetzt etwa „bei den Swahilis“), landeten in einer Bar und tranken die unvermeidbaren klebrig-warmen Biere, die der Tansanier an einem sonnigen Sonntagnachmittag eben zu sich nimmt. Weiter ging´s zu einem der Jungs nach Hause, wo seine Frau, seine Tochter, sein Bruder und viele weitere Verwandte den Mzungu, den Weißen, bestaunen konnten. Als wir so durch Uswahilini zogen wurde die Gruppe immer größer, und immer mehr der Straßenverkäufer, mit denen ich jeden Tag in der Innenstadt herumhänge, schlossen sich uns an. Nicht ohne Stolz zeigten sie mir, wer wo wohnt, in welcher Bar wer wie viele Biere getrunken hat, wessen Sohn oder Tochter wo zu Schule geht, usw.

Am nächsten Tag wusste natürlich jeder auf der Straße bescheid: Alexi war in Mbagala. Nicht wenige haben sich bei meinem Gastgeber H. beschwert, wieso er mich nicht auch zu ihnen nach Hause gebracht habe. Ich nahm die Last der Ausreden von H.´s Schultern und erklärte, ich sei leider erst so spät gekommen, dass eine volle Runde Mbagala nicht möglich war. Einladungen wurden ausgesprochen, Pläne geschmiedet, Daten besprochen. Mbagala get ready: here I come again!

Freitag, 6. Mai 2011

Mach deine Arbeit, Alexi!

„Und was kosten die hier?“, fragt die eine der beiden jungen Frauen, die vor den rund zwanzig Paaren Schuhen auf dem Gehsteig stehen geblieben sind. K., der eben noch fachmännisch den einen oder anderen Schuh vom Boden hangelte und den Kundinnen baumelnd vor die Nase hielt, zuckt die Schultern. „Das müsst ihr Alexi fragen, das sind seine“. Ich springe auf, mein Auftritt. „15.000 Shilling,“ sage ich. Verdutzt gucken die beiden mich an. „Wem gehören die Schuhe, wer verkauft sie hier?“ erwidert die eine. Ich bekräftige, dass ich der Verkäufer bin. Die beiden krümmen sich vor lachen. Ein Mzungu, ein Weißer, der auf der Straße Schuhe verkauft! Na toll. Ich versuche ernst und bei der Sache zu bleiben. „15.000 Shilling ist der Preis, was meint ihr?“. Die beiden hören auf zu lachen. „15.000? Wohl kaum, das kosten die vielleicht bei euch in Europa,“ sagt die eine. „Probier doch erst mal an,“ erwidere ich.

Sie schlüpft aus ihrem Schuh und ich falle, wie ich das schon zigmal bei den Jungs gesehen habe, auf die Knie, helfe ihr in die Sandale zu schlüpfen. Die anderen Schuhverkäufer beobachten amüsiert die ganze Szene. Der Schuh passt. „Was sagst du?“ frage ich. Betont missmutig, wie die Straßenkundschaft sich eben gibt, erwidert sie „Na, nicht schlecht. Aber der Preis...“. „Was ist dein Preis?“ fordere ich sie heraus. „10.000 Shilling“. Ich überlege. „Hm, nee, da ist kein Gewinn für mich drinnen. Für 10.000 Shilling kaufe ich sie ja selbst ein.“
Das war mein entscheidender Fehler. Denn nun weiß sie, welche Gewinnspanne ich draufgerechnet habe. Sie nörgelt und nörgelt und gibt mir schließlich 12.000 Shilling für das Paar. Ihre Freundin aber will jetzt auch ein Paar Schuhe von diesem komischen Weißen kaufen. So mache ich bei diesem meinem ersten Verkauf auf der Straße lächerliche 4.000 Shilling Gewinn.

Als die beiden abgezogen sind, lachen K. und die anderen Schuhverkäufer sich schlapp. Sie wollen alle mit mir einschlagen und rufen mir „uza hapo, Alexi!“ und „fanya kazi hapo!“ zu, also „verkauf mal was!“ und „mach mal deine Arbeit!“, Sprüche, mit denen sie sich normalerweise gegenseitig anstacheln. Nur glaube ich nicht, dass einer von ihnen nach einem Verkaufsgespräch ebenso nervös und adrenalingeladen wäre, wie ich nach meinem ersten. Voller Stolz gehe ich zu meinem Kumpel A. und gebe ihm seinen Anteil von unserem gemeinsamen Geschäft.
Ich bin beeindruckt von der Tatsache, dass K. und die anderen Verkäufer nicht eingesprungen sind, sondern dass sie mich das ganz selbstverständlich haben selbst machen lassen. Sie nehmen mich für voll.

Nach dem Verkauf kommt noch der eine oder andere Verkäufer zu mir, und gibt mir Manöverkritik. Ich habe noch viel zu lernen, merke ich. „Fang mit einem hohen Preis an,“ berät mich K. Die Kundinnen wollen nicht, dass man sie für arm hält, und sie wollen auch keine billigen, also gefälschten oder minderwertigen Schuhe angeboten bekommen. Das würde sie beleidigen. „Ich hätte bei 25.000 TSh angefangen,“ so K. Nun, das habe ich mich nicht getraut. „Und unter keinen Umständen verrätst du, für wie viel du sie selbst eingekauft hast,“ so K. weiter. Damit nimmt man sich die Chance einen hohen Gewinn heraus zu schinden.

Ich merke, wie sich mein Verhältnis zu den Jungs geändert hat, seit dieser Episode vor einigen Tagen. Sie wissen jetzt, dass ich es ernst meine. Und ich selber fühle mich, als wäre ich nun in dieser Welt des Straßenhandels angekommen. Die Teilnahme, das eigenhändige Mitmachen, wird mir klar, ist ein wichtiges Werkzeug, wenn ich verstehen will, wie sich das Leben rund um die kleinen Geschäfte auf der Straße anfühlt.

Neues von der Strassenecke.

Feldtagebuch von Alexis Malefakis... und was sonst noch so ist.

karibu!

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