Dienstag, 21. Juni 2011

Am liebsten wie Onkel Mnehu

Es ist nicht gerade einfach, elf Schuhe auf zwei Händen zu balancieren. Mein Freund C. hält in der rechten Hand sechs, in der linken Hand fünf Schuhe. An seinem linken Unterarm baumelt eine schwarze Plastiktüte mit den jeweils zugehörigen zweiten Schuhen der elf Paare. Es ist früher Nachmittag, Zeit in die Rotation zu gehen.

„Wenn Du mit Schuhen in der Hand durch Daressalam läufst, wissen die Leute, dass Du ungebildet und arm bist, sonst müsstest Du diese Arbeit nicht machen. Viele blicken auf Dich herab“, sagt C., während wir an einem College für Business und Finanzwesen vorbeigehen. Adrett gekleidete Studenten gaffen uns an. Ich verstehe an welchem Ende der sozialen Hackordnung wir stehen. C. hat keine Alternativen. Zuhause warten seine junge Frau und drei kleine Kinder, sowie ein Bruder und die Mutter, die gerade aus dem Dorf im Süden Tansanias zu Besuch sind. Alle haben Hunger und warten auf ihn, den Mann im Haus. Er muss Geld nach Hause bringen. Dass sie von den Leuten in der Stadt herablassend behandelt werden, schildern mir viele der Straßenhändler, mit denen ich mich unterhalte. Sie haben unterschiedliche Strategien entwickelt, wie sie ihre Würde und Selbstachtung hochhalten. C. und viele seiner Freunde finden in ihrem Glauben halt. „Wenn Du wirklich Gott fürchtest,“ sagt er mir, „kannst Du nur ein ehrlicher Händler sein.“ Betrügereien oder gar Diebstahl kommen für ihn nicht in Frage. „Gott weiß, dass ich das tue, um meine Familie zu ernähren.“

Wir kreuzen durch die Hauptstraßen des Central Business Districts Daressalams. Entscheidend für den Erfolg dieses Geschäfts ist das Timing. C. weiß an welchen Straßenecken die Leute vorbeikommen, wenn sie zur Mittagszeit ihre Büros in Richtung „Mama Ntilie“ (die von Frauen betriebenen Garküchen in den Hinterhöfen) verlassen. Er weiß, welcher Bürokomplex um wie viel Uhr Feierabend macht. Dieses Wissen um die zeitliche Taktung der Stadt ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg im Geschäft. Nichts ist frustrierender, als unter den herablassenden Blicken der Leute und ohne Aussicht auf einen Verkauf den ganzen Tag durch die Straßen zu laufen. Die Routinen der formell beschäftigten Büroleute strukturieren den Arbeitstag der informellen Straßenhändler. Diese müssen mit ihren Energien haushalten. Im richtigen Moment an der richtigen Straßenkreuzung oder vor dem richtigen Hochhaus stehen. Die Jungs wissen, wo das Geld zu finden ist, und wer keins in der Tasche hat. Im richtigen Moment wenden sie alle Energien auf, um mit viel rhetorischem Geschick die Waren anzupreisen. In anderen Situationen tragen sie die Schuhe stumm an Gruppen von Frauen vorbei, wenn ein Blick auf ihre Füße zeigt, dass man ohnehin nicht ihre Größen dabei hat.

schuhe
Auf den richtigen Griff kommt es an
Foto © Link Reuben 2011


Vor dem High Court nahe dem Meer baut C. seine Schuhe unter einem Baum auf. Wir setzen uns in den Schatten eines anderen Baums, und warten, dass die Kundinnen „anbeißen“. „Wir müssen aufpassen, hier laufen viele Läuse rum.“ Die Milizen der Stadtverwaltung sind die natürlichen Feinde der Straßenhändler. Sie beißen und jucken. Alle in Tansania wissen, dass die geschätzten 800.000 Straßenhändler in Daressalam keine andere Wahl haben, als informell ihren berühmten Dollar am Tag zu erwirtschaften. Bildung und „richtige“ Arbeit gibt es für sie einfach nicht. Auch Regierung und Verwaltung weiß das. Fliegende Händler aber passen nicht in das Bild einer „modernen“ afrikanischen Metropole, in die man Dar gerne über Nacht verwandeln würde. Um das „Problem“ des Straßenhandels zu bekämpfen, hat die Stadtverwaltung die geniale Strategie entwickelt, mit Schlagstöcken bewaffnete Schlägertrupps loszuschicken, um die Stadt zu „säubern“. Wer ihnen kein Geld gibt, verliert seine Waren, oder findet sich selbst im Gefängnis wieder. Was genau damit bewirkt werden soll, und wem damit geholfen ist, bleibt mir ein Rätsel, das schwer im Magen liegt.

Zwei Frauen sehen sich die Schuhe an. C. springt auf und begrüßt sie. Er hat die Gabe den Kundinnen Komplimente zu machen und ihnen Honig ums Maul zu schmieren, auch wenn er selber total erschöpft und müde ist. Ich bewundere das, wenn ich überlege, in welcher körperlichen und geistigen Verfassung ich mich zum Teil durch die Straßen schleppe. „Mit der Kundschaft flirten ist das wichtigste an diesem Geschäft. Dieses Business findet vor allem im Mund statt“. Dabei ist eine Möglichkeit ihnen zu schmeicheln, die Schuhe teuer anzubieten. Wer im High Court of Tanzania arbeitet, will nicht als arm gesehen werden. C. schraubt die Preise nach oben. Die Frauen probieren einige Schuhe an, wollen dann aber weiterziehen. C. lässt nicht locker. Als sie sich bereits einige Meter entfernt haben, schnappt er sich das Paar Schuhe, das eine der beiden zuletzt probiert hat und läuft ihnen hinterher. Ich beobachte aus einiger Entfernung, wie er mit breitem Grinsen auf den Lippen und schräg gestelltem Kopf der Kundin den Schuh anpreist und viele Worte dabei verliert. Sie unterbricht ihn mit einer Handbewegung und will sich zum Gehen wenden, aber C. hat sich schon festgebissen. Er läuft neben ihr her und umhüllt sie in Wortkaskaden. Schließlich bleibt die Frau stehen und lacht. Sie zückt ihre Handtasche und sucht darin nach Geld. C. holt eine zusammengefaltete Plastiktüte aus der Hintertasche seiner Hose und steckt die Schuhe hinein. „Was hast Du ihr gesagt?“, frage ich ihn, nach dem er zufrieden zu unserem Baum zurückkehrt. „Nimepiga force“, antwortet er mir. Er hat sich der „force“ bedient. Wenn sie erkennen, dass eine Kundin sich in einen der Schuhe verguckt hat, ziehen die Straßenhändler alle Register, um die Kundin davon zu überzeugen, dass sie ohne diesen Schuh nicht glücklich sein könne, dass sie Riesenglück habe, ihn heute auf der Straße angeboten zu bekommen, denn im Laden finde sich so ein schöner Schuh nicht unter 70.000 Schilling, dieser hier aber sei gebraucht und komme direkt aus Europa, sei also von besonders guter Qualität, keine billige Fälschung aus China oder Korea, und so weiter, und so fort...

Rotation
Die ganze Stadt ein Markt: Kundenjagd in Daressalam
Foto © Link Reuben 2011


Am Tanzania Public Service College bauen wir ein weiteres Mal auf. Hier hat sich eine kleine Gruppe von Verkäufern eingefunden, die in ähnlicher zeitlicher Taktung die potentiellen Kundenströme des Stadtzentrums abpassen. Wir setzen uns auf einen alten LKW-Reifen unter einem Baum und begrüßen die Runde. Aus dem College strömen gegen 16 Uhr die Studenten und Studentinnen. Viele bleiben bei der improvisierten Auslage im Staub der Straße stehen und begutachten die Schuhe und Handtaschen, die die Jungs mitgebracht haben. „Kwa mjomba Mnehu“, sagt C. zu einem Kollegen, während eine junge Frau sich einen seiner Schuhe greift, um ihn genauer zu inspizieren. „Mach´s wie Onkel Mnehu“. Der Verkäufer des Schuhs nickt ihm zu und geht auf die Kundin zu. Sie fragt nach dem Preis. Er sagt etwas von 35.000 Schilling. Ich wundere mich. Selten habe ich erlebt, dass die Verkäufer so dreist einen so unverschämt hohen Preis nennen. Nach einigem Verhandeln kauft sie das Paar für teures Geld. Ich wende mich an meinen Freund C. „Wer bitte ist Onkel Mnehu“ frage ich ihn. C. lacht und erklärt mir „Onkel Mnehu war früher ein Verkäufer auf dem Mchikichini-Markt, wo wir unsere Schuhe morgens einkaufen. Er hatte die unverschämtesten hohen Preise weit und breit. Wenn ich meinem Kumpel sage, er soll´s machen wie Onkel Mnehu, weiß er, dass er heute ein gutes Geschäft machen kann. Ich kenne die Kundin, die hat viel Geld in der Tasche, das rülpst sie nur so heraus“. Wer Onkel Mnehu allerdings ist, das weiß sie sicher nicht. Ohne ein Blatt vor den Mund nehmen zu müssen können die Verkäufer in Anwesenheit der Kunden also Informationen austauschen, wenn sie sich solcher Formulierungen und Codes bedienen.

Gegen 17 Uhr machen wir uns auf den Weg zum Benjamin Mkapa Tower, direkt an der Bushaltestelle „Posta“, dem Herzen des Zentrums. Dort ist die letzte Station des Tages. Um diese Zeit können die Straßenhändler hier ihre Waren aufbauen, ohne von den privaten Sicherheitsdiensten vertrieben zu werden. Von den vielen Straßenhändlern machen einige lange Gesichter. Sie haben heute nichts verkauft, haben nicht einmal das Geld für den Bus zurück nach Hause in der Tasche. Sie machen die Runde und bitten ihre Kollegen um etwas Kleingeld. Wer die 400 Schilling nicht zusammenbekommt, der kann sich auf einen dreistündigen Fußmarsch nach Hause einstellen, und das nach einem langen Tag in den Straßen der Stadt. C. hat heute etwas verdient und kann weiterhelfen. Ich verstehe, dass mein Freund ein erfahrener Schuhverkäufer ist, der sein persönliches System gefunden hat, um zu seinem Geld zu kommen. Trotzdem bleibt das Geschäft ein Glücksspiel. „Du kannst noch so schöne Schuhe dabei haben, Du weißt nie, wen Du in den Straßen triffst“, sagt er. Viele Faktoren des Geschäfts lassen sich einfach nicht kontrollieren. An manchen Tagen bleiben auch seine Taschen leer.

Neues von der Strassenecke.

Feldtagebuch von Alexis Malefakis... und was sonst noch so ist.

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