Montag, 22. August 2011

Die Alten vom Stein

„Bei uns an der Straßenecke vertrauen sich die Leute nicht,“ sagt S. Wir hetzen wie üblich durch den Stadtverkehr, er mit sechs Paar Schuhen in der Hand, ich mit meinem Notizblock. „Ich habe schon einmal versucht, die Leute zu animieren gemeinsame Sache zu machen.“ Ich horche auf. „Ich habe vorgeschlagen, ein gemeinsames Bankkonto zu eröffnen, denn wenn wir unsere geringen Gewinne zusammenlegen würden, könnten wir in ein oder zwei Jahren vielleicht ein besseres Business finden.“

Oft habe ich in Interviews Klagen gehört, dass jeder am Maskani im Grunde auf sich selbst gestellt sei. Wenn es Probleme gebe, jemand in der Familie krank werde, oder wenn das Kapital aufgrund zu geringer Verkäufe immer kleiner würde, könne man auf die Hilfe der anderen kaum hoffen. Mich hat das immer verwundert, weil ich im täglichen Miteinander beobachten kann, wie intensiv kommuniziert und interagiert wird, wie Werkzeuge zur Reparatur geteilt, Informationen ausgetauscht oder einzelne Paare Schuhe hergeliehen werden. Eine stabile Gemeinschaft scheint aber aus dieser täglichen Kooperation nicht gewachsen zu sein – zumindest lassen die Darstellungen meiner Protagonisten dieses Bild entstehen.

Trotz meiner Belege für geteiltes Wissen, das unter den Schuhverkäufern tradiert wird, institutionalisierte Formen der Kooperation, gemeinsame Herkunft und zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen unter den einzelnen Verkäufern negieren alle, die ich danach frage, dass es so etwas wie eine „Gruppe“ überhaupt gibt. Folglich waren auch die Bemühungen meines Freundes S., seine Kollegen von den Vorteilen eines gemeinsamen Kontos zu überzeugen, gering. „Der eine oder andere war schon bereit, sich darauf einzulassen, aber die meisten haben gesagt, sie hätten ihre eigenen Sorgen, oder sie seien zufrieden, wenn sie von Tag zu Tag über die Runden kämen.“ Er aber mache sich Sorgen, nicht um sich, sondern um die Zukunft seiner Kinder. Derer hat er zwei – und im September erwarten er und seine Frau ihr drittes. „Sie werden mich eines Tages fragen, wieso ich es nicht geschafft habe, ihnen ein besseres Leben zu ermöglichen. Darüber zerbreche ich mir jeden Tag den Kopf.“

Besprechung unterm Baum: Sie Alten vom Stein und ihre "Satzung"
Besprechung unterm Baum: Die Alten vom Stein und ihre „Satzung“

Tage später spricht S. mich an. Er hat nach unserem Gespräch einige seiner Freunde erneut darauf angesprochen, und drei Mitstreiter gefunden, die bereit sind, etwas zu wagen. Nachdem sie eine Bank gefunden haben, bei der ein Gemeinschaftskonto ohne größeren Verwaltungsaufwand eröffnet werden kann, bitten sie mich, sie bei der Formulierung einer „Satzung“ ihrer Gruppe zu beraten. Sie wollen monatlich einen bestimmen Betrag beiseite legen, damit sie nach einiger Zeit, einem Jahr, mit einem Batzen Geld in ein anderen Business investieren können. „Schuhe durch die Straßen tragen, das bringt uns nirgends hin,“ klagt S., „und wenn ich einmal alt bin, will ich das nicht machen müssen.“

Letzten Sonntag haben sie mich besucht, um die Grundsätze ihrer Gruppe zu besprechen. Ein paar einfache Regeln sollten reichen, um späterem Streit vorzubeugen, der in Geldsachen ja doch immer zu erwarten ist. Zu viele unterschiedliche Ideen haben die Vier schon jetzt, mit welchem Geschäft sich Geld verdienen ließe, wenn denn nur das entsprechende Kapital vorhanden wäre. Ich empfehle ihnen, eine Art „Rat“ einzuberufen, in dem alle Entscheidungen das Geld betreffend durch Konsens getroffen werden. Das schreiben wir in die Satzung. Auch soll jeder stets den gleichen Betrag einzahlen, damit später, wenn größere Gewinne eingefahren werden, kein Streit entstehen kann, weil einer von ihnen den einen oder anderen Monat nicht den vollen Betrag beigesteuert hat. Sie danken mir meinen Rat, indem sie mich zum Ehrenmitglied und „director“ berufen. Es fehlt noch ein Name für die Gruppe. „Nyama ngumu“ wird vorgeschlagen, zähes Fleisch, oder „wazee wa kijiweni“, die Alten vom Stein, da man üblicherweise auf irgendwelchen Steinen oder Betonbrocken herumhängt, wenn man auf der Straße ist. Zu fortgeschrittener Stunde vertagen wir die Namensentscheidung auf die erste Ratssitzung, und springen alternativ lieber einmal in den indischen Ozean. Anschließend Fastenbrechen mit Fanta – es ist Ramadan.

Neues von der Strassenecke.

Feldtagebuch von Alexis Malefakis... und was sonst noch so ist.

karibu!

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