Das weiße Rauschen?

Zu Beginn meiner Feldforschung in Daressalam war ich mit täglichen Frustrationen konfrontiert. Wenn die Sprachkenntnisse noch nicht genügen, um sich selbstbewusst in die täglichen Kommunikationsflüsse einzuklinken, muss man sich damit abfinden, dass jeder Fünfjährige dem Leben mit mehr Souveränität entgegentritt, als man selbst. An den falschen Stellen gelacht, stotternde Versuche etwas über das eigene Leben zu erzählen, unbeabsichtigt für die Belustigung der gesamten Truppe gesorgt. Sehr witzig. Eine wohl natürliche Folge dieser kulturellen Verunsicherung ist, dass man jeden Tag mit sich selber ringt: Es kostet ein hohes Maß an Überwindung, sich *freiwillig* diesen Situationen auszusetzen.

Aber vermutlich ist das die Essenz der Feldforschungserfahrung. Kurt Beck sagte einmal zu mir, der Ethnologe muss sich mit Haut und Haaren in die fremde Kultur hineinwagen, und dabei auch die eigene Person aufs Spiel setzen. Ich verstehe jetzt, was er gemeint hat. Damit bekommt die Ethnologie eine persönlichkeitserweiternde Wirkung, lässt mich über mich selbst stolpern, legt den Finger in intime Wunden. Nichts ist so einsam, wie die ersten Wochen der Feldforschung, das können sicher viele Kollegen bestätigen. Aus dieser Einsamkeit heraus muss ich zugleich über alle Maßen kommunikativ und sozial sein. Ich muss ständig die Initiative ergreifen und die Leute bitten, mir zu helfen, mit mir zu sprechen, mich zeitweise in ihr Leben mitzunehmen. Manche Beziehungen im „Feld“ müssen jeden Tag erneuert werden, beginnen jeden Tag bei Null. Andere ziehen an mir zu jeder Tages- und Nachtzeit, zerren mich in unterschiedliche Richtungen, fordern mich, Teil ihres Lebens zu werden, Teil ihrer Familie, nie wieder nach Deutschland zurückzukehren.

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Sich selbst beforschen: Ein Ethnologe und ein „Anderer“
Foto © Link Reuben 2011


Die Menschen in jedem „Feld“ sind Persönlichkeiten, komplex, tief, mit Biografien und Zukunftshoffnungen, Problemen, Ängsten, alten Wunden, Ecken und Kanten. Keiner von ihnen ist ein „Informant“, den ich nur umdrehen und schütteln muss, schon purzeln die „Informationen“ heraus. Je mehr ich mich auf mein Gegenüber einlasse, je mehr gemeinsamen Boden wir unter unseren Füßen spüren, desto detailreicher und tiefer werden die Gespräche, und damit auch meine „Fakten“ (denn die Informationen sind nicht gegeben, also „Daten“, sondern durch mich und mein Gegenüber geschaffen, also „Fakten“).

Aus den komplexen Persönlichkeiten setzt sich ein soziales Gefüge zusammen, das entsprechend vielgestaltig und im ständigen Wandel ist. Es gibt kein Zentrum, alles ist irgendwie Peripherie. Es gibt keinen privilegierten Standpunkt, von dem aus ich einen „Kernbestand“ an Wissen und Kultur herausarbeiten könnte. Die einzelnen Verkäufer treffen sich als Individuen, mit unterschiedlichen Strategien und Vorstellungen davon, wie ein gutes Leben zu bewerkstelligen ist. Gibt es mein „Feld“ also überhaupt? Oder findet es sich nur in meinem Kopf?

Und wie kann ich es „erforschen“, wenn es manchmal tagelang stumm bleibt? Wenn der Zeitdruck, unter dem die Straßenhändler stehen, mit meinem Zeitdruck kollidiert? Wenn an die 30 Straßenhändler um mich herumwuseln: Mit wem muss ich reden? Wer hat eine interessante Geschichte? Wie bekommen ich das heraus, und zwar möglichst schnell? Denn Feldforschung ist ein zeitlich begrenztes Unternehmen (ich weiß nicht, ob das nun das Gute oder das Schlechte daran ist). Wenn ich mit Gedanken an Giddens´ „Theorie der Strukturierung“ im Feld sitze, neben den Jungs, die seit zwei Stunden lauthals über das vorabendliche Spiel der „Champions League“ diskutieren: Wo, bitte, sind die relevanten Informationen? Oder sind sie das schon? Woran erkenne ich sie?

All das muss ich analytisch zum klingen bringen. Mein wichtigstes und einziges Messinstrument bin ich selbst. Meine Person ist der Resonanzkörper, der durch meine Erfahrungen im „Feld“ zum schwingen gebracht wird. Dabei spielt nicht nur die geistige Reflexion eine Rolle. Wenn es so etwas wie kulturellen Sinn gibt, spielen sicher auch meine Sinne eine Rolle. Und sicher auch all der Unsinn, der sich zwischen den zu entschlüsselnden Symbolen versteckt. Und der manchmal in den Vordergrund quillt und meinen Horizont füllt. Das weiße Rauschen der Zeichen, die nicht entschlüsselt werden, weder von mir, noch von den Akteuren. Die vielleicht gar nicht zu deuten sind.

Klassische Ethnologie folgt ja dem Narrativ, der Ethnologe müsse nur lange und intensiv genug den „Eingeborenen“ lauschen, dann würde er zu ihrer Sinndeutung der Welt vordringen. Was aber passiert mit der Ethnologie, wenn die Akteure selbst einen Großteil dessen nicht verstehen, was um sie herum vor sich geht? Oder schlichtweg kein Interesse daran haben? Auch hier muss eine Erkenntnismöglichkeit liegen. So wiegt sich der Ethnologe am Ende des Tages mit dem mäßig tröstenden Gedanken in den Schlaf: Das „Feld“ spricht zu mir, auch wenn es mich auslacht oder stumm bleibt.
anthronaut - 7. Jul, 15:53

Lex, du schreibst mir aus der Seele. Nichts hinzuzufügen.

Neues von der Strassenecke.

Feldtagebuch von Alexis Malefakis... und was sonst noch so ist.

karibu!

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