„Sie haben Hunger“ oder: Wie man einen „Geertz“ macht
Der Hahnenkampf in Bali ist jedem Studenten der Ethnologie ein Begriff. In den 1970er Jahren zeigte der amerikanische Anthropologe Clifford Geertz am Beispiel dieses illegalen Volkssports, wie sich durch „dichte Beschreibung“ anhand eines mikroskopischen sozialen Ereignisses ganze gesellschaftliche Verhältnisse aufblättern lassen. Besonders bekannt ist Geertz für eine neue Ethnologie, bei der die Rolle des Forschenden in seinem sozialen Umfeld thematisiert und reflektiert wird. In einer Episode beschreibt Geertz, wie schwierig es für ihn zu Beginn seiner Forschung war, überhaupt Zugang zu den Menschen in Bali zu finden. Sie ignorierten ihn und boten ihm keinerlei Einsicht in ihre Lebensweise. Diese Situation änderte sich jedoch eines Tages als Geertz, zusammen mit allen anderen Zuschauern eines illegalen Hahnenkampfes, von einer Polizeirazzia überrascht wurde. Was die Balinesen an dem sonderbaren Amerikaner gefiel war, dass er nicht, angesichts der anrückenden Staatsmacht schlicht seinen ausländischen Pass zückte, und sich damit als „nichts-ahnender Ausländer“ aus der Affäre zog. Geertz nahm die Beine unter die Arme, genau wie die anderen Leute im Dorf. Er rannte vor der Polizei davon. Diese Solidaritätsbekundung bracht das Eis zwischen den Balinesen und dem Anthropologen. Noch tagelang, so schreibt Geertz, lachte man, wenn man ihn im Dorf sah, und amte die panische Art nach, in der der Weiße vor der Polizei davonlief. Er wurde zum Gesprächsstoff der Leute und fand dadurch endlich Zugang zu ihnen.
Heute war ein Tag der Razzien. Schon am Morgen, als ich an „meine“ Straßenecke kam, und meine Schuhe auf der Straße aufbaute, machte mich ein Kumpel darauf aufmerksam, dass bereits jemand von den „City-Askari“ vorbeigekommen sei. Die „City-Askari“, oder einfach „Wasiti“, sind die „Ordnungstruppe“ der Stadtverwaltung. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, illegale Straßenhändler des Platzes zu verweisen. In der Realität sieht das mitunter so aus, dass uniformierte Schlägertrupps die Habenichtse auf den Straßen der Stadt terrorisieren, sie verprügeln, ihre Waren einsacken, sie mitnehmen und einsperren. Dabei geht es ihnen aber nicht um Recht und Ordnung. Sie wollen Schmiergeld. Wer eingesackt wurde, muss zahlen, sonst kommt er ins Gefängnis. Fast alle meiner Freunde waren schon im Knast, eine Woche, oder auch mal zwei Monate.
Zu sechst kamen sie heute Mittag bei uns vorbei. Als sie um die Ecke kamen, schnappten wir uns, so gut es ging, unsere Schuhe, rannten mit ihnen in einen Hinterhof, wo wir uns und die Schuhe in Sicherheit brachten. Aber alle Schuhe konnten wir nicht retten. Die „Wasiti“ hatten extra eine große Tüte mitgenommen (ob sie die wohl von ihrem eigenen Geld gekauft haben?), und sackten die restlichen Schuhe an unserer Ecke ein, etwa 15 Paar. Auch meine waren dabei.
Nun machen die Jungs diesen Job nicht erst seit gestern, und wissen, was in so einem Fall zu tun ist. Einer der erfahrensten am Platz nahm sich ein Herz und lief dem Trupp hinterher. Eine halbe Stunde später kam er wieder, die Tüte mit Schuhen in der Hand. Er war frustriert und sagte, er habe 10.000 Schilling (etwa 5.-€) zahlen müssen, um die Ware wieder zu bekommen. „Wana njaa“, kommentierte er, sie haben Hunger. Auf eine sonderbare Art und Weise sind die Trupps der Stadtverwaltung Teil des informellen Sektors, verdienen sie doch mit am Straßenhandel. Bei verschwindend geringen Einkommen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Machtposition auszunutzen, und sich durch Drangsal und Erpressung etwas dazu zu verdienen. Das wissen die Jungs auf der Straße auch.
Kompliziert wurde es, als verhandelt wurde, wie der Retter der Waren nun an seine 10.000 Schilling kommen soll. Er war stinksauer, dass sich einige der Jungs einfach ihre Schuhe schnappen wollten, und ihn mit dem gewaltigen Verlust sitzen lassen wollten. Es kam zu Geschrei und Handgreiflichkeiten. Der Verlust muss aufgeteilt werden, so viel war klar. Aber soll man nun anteilig bezahlen, je nachdem, wie viele von den eigenen Schuhen in der Tüte der „Wasiti“ gelandet waren? Oder teilt man das Schmiergeld einfach durch die Zahl der betroffenen Händlern? Man einigte sich schließlich auf letzteres. Auch ich musste mein „buku“, meinen Tausender beisteuern, um mit gutem Gewissen meine Schuhe wieder auf die Straße stellen zu können.
Und, ha ha, was haben wir über unseren „Mzungu“, unseren Weißen gelacht, als er panisch irgendwelche Schuhe vor ihm auf dem Gehsteig schnappte und im Schweinsgallopp davon rannte. „Umesepa!“, rufen sie mir zu, du bist abgehauen. Natürlich bin ich das. Ich hab doch Geertz gelesen.
Schuhe verkaufen am Maskani: Warten auf die nächste Razzia?
(Foto (c) Link Reuben 2011)
Heute war ein Tag der Razzien. Schon am Morgen, als ich an „meine“ Straßenecke kam, und meine Schuhe auf der Straße aufbaute, machte mich ein Kumpel darauf aufmerksam, dass bereits jemand von den „City-Askari“ vorbeigekommen sei. Die „City-Askari“, oder einfach „Wasiti“, sind die „Ordnungstruppe“ der Stadtverwaltung. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, illegale Straßenhändler des Platzes zu verweisen. In der Realität sieht das mitunter so aus, dass uniformierte Schlägertrupps die Habenichtse auf den Straßen der Stadt terrorisieren, sie verprügeln, ihre Waren einsacken, sie mitnehmen und einsperren. Dabei geht es ihnen aber nicht um Recht und Ordnung. Sie wollen Schmiergeld. Wer eingesackt wurde, muss zahlen, sonst kommt er ins Gefängnis. Fast alle meiner Freunde waren schon im Knast, eine Woche, oder auch mal zwei Monate.
Zu sechst kamen sie heute Mittag bei uns vorbei. Als sie um die Ecke kamen, schnappten wir uns, so gut es ging, unsere Schuhe, rannten mit ihnen in einen Hinterhof, wo wir uns und die Schuhe in Sicherheit brachten. Aber alle Schuhe konnten wir nicht retten. Die „Wasiti“ hatten extra eine große Tüte mitgenommen (ob sie die wohl von ihrem eigenen Geld gekauft haben?), und sackten die restlichen Schuhe an unserer Ecke ein, etwa 15 Paar. Auch meine waren dabei.
Nun machen die Jungs diesen Job nicht erst seit gestern, und wissen, was in so einem Fall zu tun ist. Einer der erfahrensten am Platz nahm sich ein Herz und lief dem Trupp hinterher. Eine halbe Stunde später kam er wieder, die Tüte mit Schuhen in der Hand. Er war frustriert und sagte, er habe 10.000 Schilling (etwa 5.-€) zahlen müssen, um die Ware wieder zu bekommen. „Wana njaa“, kommentierte er, sie haben Hunger. Auf eine sonderbare Art und Weise sind die Trupps der Stadtverwaltung Teil des informellen Sektors, verdienen sie doch mit am Straßenhandel. Bei verschwindend geringen Einkommen bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Machtposition auszunutzen, und sich durch Drangsal und Erpressung etwas dazu zu verdienen. Das wissen die Jungs auf der Straße auch.
Kompliziert wurde es, als verhandelt wurde, wie der Retter der Waren nun an seine 10.000 Schilling kommen soll. Er war stinksauer, dass sich einige der Jungs einfach ihre Schuhe schnappen wollten, und ihn mit dem gewaltigen Verlust sitzen lassen wollten. Es kam zu Geschrei und Handgreiflichkeiten. Der Verlust muss aufgeteilt werden, so viel war klar. Aber soll man nun anteilig bezahlen, je nachdem, wie viele von den eigenen Schuhen in der Tüte der „Wasiti“ gelandet waren? Oder teilt man das Schmiergeld einfach durch die Zahl der betroffenen Händlern? Man einigte sich schließlich auf letzteres. Auch ich musste mein „buku“, meinen Tausender beisteuern, um mit gutem Gewissen meine Schuhe wieder auf die Straße stellen zu können.
Und, ha ha, was haben wir über unseren „Mzungu“, unseren Weißen gelacht, als er panisch irgendwelche Schuhe vor ihm auf dem Gehsteig schnappte und im Schweinsgallopp davon rannte. „Umesepa!“, rufen sie mir zu, du bist abgehauen. Natürlich bin ich das. Ich hab doch Geertz gelesen.
Schuhe verkaufen am Maskani: Warten auf die nächste Razzia?
(Foto (c) Link Reuben 2011)
lekke - 26. Mai, 19:03